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Texting, Sexting, Mobbing

Man erstaunt doch zunehmend über eine nicht ganz nachvollziehbare Schamschere, die vielleicht nicht nur Jugendliche erfasst, aber bei diesen und bei jüngeren Menschen im Allgemeinen verhältnismäßig deutlich zu beobachten ist. Wenn dies alles auch nur anekdotischen Charakter hat, so fällt doch eines auf. Die so genannten "digital natives" sind offenbar in gewisser Hinsicht eher "digital naïves".

Im Umgang mit Bildern vom eigenen Körper (gleich ob im Auge des Betrachters oder auf Speichermedien) scheint da etwas zu geschehen, das nicht recht einleuchtet. Es wirkt so, als ob eine seltsame Umverteilung der Schamhaftigkeit geschieht. In der so genannten Öffentlichkeit (also unter Fremden, lediglich mit den Augen beteiligten Menschen) zeigen sich Jugendliche anscheinend durchaus bedeckter oder "befangener" als noch vor einer halben Generation. Dies wird auch von manchen Sexualwissenschaftlern in ähnlicher Form konstatiert, wenn man sich auf die Suche nach geeigneten Quellen begibt.

Diese Befangenheit jedoch scheint mir aber lediglich auf die verhältnismäßig harmlosen Möglichkeiten zuzutreffen, von jemandem maximal betrachtet zu werden. Dem Blick des / der Anderen möchte man sich offenbar dann, wenn er sich in der Öffentlichkeit  ergibt (beim Umziehen am Baggersee, am Strand, in der öffentlichen Sauna) zunehmend weniger aussetzen. Handtücher müssen her (bei den jungen Damen), längere Badebekleidung muss her (bei den jungen Herren).

Gleichzeitig wirkt aber der Umgang mit unbeschränkt reproduzierbaren und kinderleicht versendbaren Bildern des eigenen Körpers sehr unbefangen. Und wenn die in der Presse lancierten Berichte über die schlimmen Auswirkungen des absichtlichen Verbreitens intimer Fotos durch andere Jugendliche tatsächlich auf einer breiteren Basis selbstgemachter, selbst versendeter Fotografien stehen, dann ist die hier vorhandene "Unbefangenheit" beinahe schon eine Gedankenlosigkeit.

Dass man überhaupt digitale Fotos von sich und seinem nackten Körper anfertigt, die nämlich qua Digitalität sofort verlustlos zu vervielfältigen sind, ist ja das erste, was erstaunt. Dass man ein solches Vertrauen in frühe Liebesbeziehungen entwickelt, dass man digitale Kopien seiner eigenen Nacktfotos auch noch an diese verschickt, ist das zweite.

Die Schere, die sich hier öffnet, ist nicht unbedeutend. Einerseits handelt man vorsichtig: Handtuch vorhalten, wenn ein lebendes Auge anwesend ist, das dem Betrachter allenfalls das verschwommene Erinnern an zufällige, beiläufige Nacktheit ermöglicht. Andererseits ist man freizügig: inszenierte Nacktheit dem Anderen als Digitalkopie mit unbeschränktem Zugang, unbeschränkter Reproduzierbarkeit gewähren. Letzteres wirkt vor dem Hintergrund der andererseits parallel praktizierten Einschränkung des Zuganges anderer mit dem unbewaffneten Auge  doch schon reichlich naiv. Da wird das Flüchtige gefürchtet, das dauerhaft Fixierte aber nicht.

Vielleicht ist es aber auch keine Naivität im eigentlichen Sinne, sondern hat etwas mit den von den Jugendlichen erworbenen Kategorien von Privatheit und Öffentlichkeit zu tun. Schließlich hat man ja, indem man sein Nacktfoto nur einem (geliebten) Menschen schickt, Privatheit geschaffen. In der Sauna, wo lauter Leute gucken können, ist es aber öffentlich. So scheint das ja durchaus nachvollziehbar und logisch.

Jedoch ist das aber schon in dem Moment reichlich krumm und schief, wo es nicht die möglicherweise fatalen Konsequenzen der (bloß vereinbarten) Privatheit eines quasi unauslöschbaren Dokumentes mit erfassen kann. Warum nämlich herrscht wohl in Badeanstalten Handy- und Knipsverbot? Genau, weil vom öffentlichen Angegucktwerden und Angucken mit bloßem Auge kaum Schaden ausgeht. Im Gegenteil sind  insbesondere am Strand und in Badeanstalten ja sogar Verhaltenskorrektive in Form sozialer Kontrolle wirksam, die einen in seiner Textillosigkeit noch schützen. Und das sogar umso besser, je mehr Leute vorhanden sind. Klingt verrückt, ist aber so.

Diese Korrektive sind aber, und das ist so einfach wie wahr, nicht in den jpeg-Metadaten des eigenen Selfies mitenthalten, egal wem man es schickt und wie verttraut und privat einem dieser Akt vorkommt (wenn man nämlich einmal ausblendet, wo das eigene Bild beim Versand von A nach B über einen der typischen Dienste nicht schon überall abgelegt  und gespeichert ist). Ein dementsprechend vorsichtiges, die Potenziale richtig einschätzendes Verhalten scheint sich offenbar aus dem reinen (noch so "nativnahen") Umgang mit elektronischen Medien nicht automatisch zu ergeben. Es wäre aber vielleicht nötig, um die Entscheidung pro oder contra Nacktfoto-Versand auf eine etwas solidere Basis zu stellen. Denn die Zuschreibung "der / die muss doch gewusst haben, was er / sie da tut und deswegen trägt er / sie auch eine gewisse Mitschuld an der Misere", die kommt ja ohnehin, wenn etwas schief geht.